Freitag, 27. Juli 2018

Das weite Feld der pädagogischen Frühförderung

Warum ich eine ganze Menge darüber weiß und warum meine eine Tochter sowas beruflich macht


Ich wurde heute gefragt, warum meine Tochter in der Kita in Kiel-Gaarden, wo sie das macht, was man heilpädagogische Frühförderung von Babys und Kleinkindern nennt, denn "nur 30 Stunden arbeiten würde". Dass diese Kinder 30 Stunden in der Woche in dieser speziellen Kita sind, und davon viel zu viele auf eine Erzieherin, ist nur ein unwesentlicher Teilaspekt so eines Jobs .. denn die Hauptaufgabe der Hilfe für so ein Kind liegt im Elternhaus und kann je nach Problem durchaus eine Lebensaufgabe sein.


Oben Marius und ich ein paar Stunden nach seiner für uns beide fast tödlich verlaufenden Entbindung, bei der ich einen kurzen Herzstillstand erlitt. Wir hatten beide dank einer sehr guten Hebamme überlebt, obwohl ich vorher mit einem komplett unfähigen Assistenzarzt in der Geburtsklinik konfrontiert gewesen war und sicher auch deshalb, weil meine Mutter so geistesgegenwärtig war, diese Hebamme sofort zu mir zu holen, als sie erkannte, wir sind in Lebensgefahr. Ich war aber schon so geschwächt, dass doch zwischendurch mein Herz aussetzte.


Als Marius dann lebend das Licht der Welt erblickte und ich auch wieder einen Herzschlag hatte, wussten wir noch nicht, wie schlimm die Folgen dieses Ärztepfuschs für meinen kleinen Sohn sein würden. Das stellte ich erst ein paar Tage später fest, weil er sich einfach sonderbar verhielt.

Es war, als ob einer eine Spirale in seinen Kopf gedreht hatte, den er immer wieder krampfhaft in die gleiche Richtung drehte und auch nicht zuließ, dass man den andersrum drehte .. dabei verbog sein ganzer kleiner Körper zu einer verkrampften Schieflage.



Wir gingen zum Kinderarzt, von da zu zig Stellen, die sich eben mit dem auskannten, was man heilpädagogische Frühförderung nennt, und dann kam das volle Programm zum Tragen, das erforderlich ist um zu verhindern, dass ein Kind, das wie mein Sohn etwas hat, was sich mutiple Zerebralparese nennt .. und was man landläufig eher als Streckspasmus bezeichnet ... später weder laufen, lesen und schreiben und vieles andere nicht lernt, weil in seinem Säuglingsalter verpasst wird, es sofort !!!!! gezielt zu beturnen.






Extrem wichtig ist bei meinem Sohn gewesen, dass er krabbeln lernt, dass er beim krabbeln in der Lage war, Gegenstände aufzusammeln, in de Mund zu stecken und deren Form über den Mund zu erfassen .. denn wenn ein Baby das nicht lernt, kann es später auch keine Formen mit den Augen erkennen, es kann so weder lesen noch schreiben lernen .. und wird vermutlich, da es nicht krabbbeln lernt, auch nicht laufen lernen.


Es gehörten unzählige Arztbesuche, Besuche bei den uns betreuenden ständig wechselnden Heilpädagogen, Physiotherapeuten und so weiter und zu Hause die jahrelang permanente Wiederholung wichtiger Übungen dazu, um meinen Sohn soweit zu bringen, dass er krabbeln lernte, dass er laufen lernte, dass er sogar schwimmen und radfahren kann, dass er in der Lage war, eine normale Grundschule, eine normale Realschule, eine normale Berufsschule, wo er das Fachabitur machen konnte und sogar eine normale Fachhochschule zum Studieren besuchen konnte.

Was so ein Kind an Übungen braucht, ändert sich laufend und wird mit zunehmendem Alter angepasst. Marius war schon fast erwachsen, als der letzte Besuch und die Überlegung, dass es nun für ihn gut sein könnte, ein Instrument spielen zu lernen, bei uns im Haus stattgefunden haben. Nach dem Versuch, von seinem Bruder das Gitarrespielen zu lernen, stellten wir fest, das ist nicht das Richtige und er lernte, Keyboard spielen und am Computer zu arbeiten. Mit so viel Begeisterung, dass er so zu seinem Studienfach Multimedia Production kam.

Meine Mutter hat ein paar Monate versucht, diese Dinge mit Marius zu machen, wenn ich arbeiten war. Ich habe meinen Beruf aufgegeben, weil meine Mutter zu alt dafür war .. unter anderem. Es gab auch noch ein paar andere Gründe, aber Marius anständig zu beturnen, war der Hauptgrund dafür.

Dass die etwas ältere Schwester von Marius so einen Beruf gelernt hat, also über sozialpädagogische Assistentin Erzieherin und dann Therapeutischen Reiten, hat viel damit zu tun, dass sie als kleines Kind und Teenager miterlebt hat, wie wichtig es ist, so früh wie möglich und so intensiv wie möglich mit einem behinderten Kind zu arbeiten .. jeden Tag .. unermüdlich .. mit unendlich viel Geduld.

Und was es heißt, das nicht zu tun, hat Esther auch miterlebt, und zwar an einem Nachbarkind aus Depenau, das heute immer noch im Rollstuhl sitzt, schwerstbehindert geblieben ist und in Raisdorf in einer Behinderteneinrichtung wohnt, während mein Sohn heute ein ganz normales Leben führen kann .. weil es mir klar war, er geht vor .. und nicht mein Job.

Um ein Kind heilpädagogisch zu betreuen, braucht es eine große und komplett individuelle Spannweite.

Behinderungen können sich sehr unterschiedlich auswirken. Bei Marius standen immer überwiegend körperliche Dinge im Vordergrund, also motorische Probleme, die sich aber durchaus psychisch hätten auswirken können und es sicher auch trotz intensiven Beturnens getan haben, denn mein Sohn ist laufend von seinen Mitschülern, zuweilen sogar seinen Lehrkräften verarscht worden, und sei es nur, weil er trotz Mühe natürlich keinen Ball fangen konnte.



Mein Sohn verhält sich entsprechend und hat gelernt, jede Schwäche seines Gegenübers sofort auf eine sehr verletzende Art auszuspielen, sobald er das Gefühl hat, angegriffen zu werden ... das, was ihm körperlich immer gefehlt hat, gleicht er durch seinen sehr hohen IQ aus und lässt das andere, wenn es sein muss, auch sehr heftig spüren. Das wäre sicher anders, wäre er nicht mit dieser Behinderung geboren worden.


Ich selbst war aus dem Beruf, den ich mal gelernt habe und wo ich auch gut drin war, komplett raus, als Marius soweit war, dass er mich nicht mehr von morgens bis abends gebraucht hat.
Ich wollte ihn auch noch nicht Vollzeit alleine lassen, aber in Teilzeit stellte mich keiner ein, weil ich für derartige Tätigkeiten halt überqualifiziert war. Ich bin nunmal weder Kassiererin noch Verkäuferin im Einzelhandel von Beruf.


Also machte ich das Abitur nach, auch um meiner Großen, die Tierärztin werden wollte, bei den Hausaufgaben helfen zu können und habe eine Weile studiert, was mir mit meiner großen Familie dann doch zu viel war.
Später fand ich doch noch einen Job, für den ich nichts hätte gelernt haben müssen, nämllich als Hilfsarbeiterin in einer Gärtnerei und kaufte davon Pferde, baute einen Offenstall und bezahlte alles weitere für Pferde hinter dem Haus .. aber auch für die Musikinstrumente unserer Söhne und alles, damit Marius seine Motorik an einem PC unter Beweis stellen konnte .. und das konnte er wirklich gut.
 Und Esther entwickelte die Idee, sich im pädagogischen Reiten ausbilden zu lassen.

 Dazu brauchte sie nicht nur die Ausbildung zur Erzieherin und eine Reitlehrer-Lizenz, sondern auch noch diverse andere Scheine im heilpädagogischen Reiten .. es hat viele Jahre gedauert, bis meine Tochter damit fertig war.
 Eine Weile war sie mit einer eigenen Reitschule selbständig, hat sich aber nach einem schweren Unfall dafür entschieden, heute im Angestelltenverhältnis zu arbeiten, weil man da auch mal krank werden darf ohne unterzugehen und macht das, was sich pädagogische Frühförderung nennt.

 Wenn meine Tochter heute sagt, ohne dass die Eltern intensiv mitmachen, hat das alles keinen Sinn, dann glaube ich ihr das aufs Wort.

Ich weiß das nämlich aus meiner ganz persönlichen Erfahrung mit ihrem kleinen Bruder, der niemals gesund oder auch nur so gesund geworden wäre, wie er es heute ist, wenn er nur dort mal was gemacht hätte, wo man genau genommen nämlich mir als Mutter beigebracht hat, das alles zu Hause intensiv mit ihm weiterzumachen und zu vertiefen.
Dass Eltern viel arbeiten können, die ein Kind haben, das so intensiv betreut werden muss, ist gar nicht möglich.

Mag sein, sie können in der Zeit, wo es in so einer Kita ist, stundenweise mal was tun .. mehr aber garantiert nicht .. denn sonst hat dieses Kind keine Chance im Leben. Das braucht dringend, dass es zu Hause weitergeht, und zwar rund um die Uhr .. auch ganz unabhängig davon, was dieses Kind nun genau hat.


Jede Behinderung dieser Art ist eine sehr ernst zu nehmende Sache, wo das Kind im Vordergrund zu stehen hat und niemals der Job seiner Mutter.
...
 
 Und nun ein wenig Input allgemein, oben habe ich das ja mal so erklärt, wie ich es ganz persönlich in meinem Leben kennengelernt habe:


Das ist aus der Schweiz .. aber das Prinzip ist das gleiche:

"An wen richtet sich die Heilpädagogische Früherziehung?



Auf Grund vielfältiger Ursachen kann es sein, dass sich ein Kleinkind nicht so entwickelt, wie seine Eltern es erwarten. Manchmal fällt schon während oder kurz nach der Geburt auf, dass das Kind behindert ist. Bei anderen Kindern zeigen sich die Auffälligkeiten im Verlauf der ersten Lebensmonate oder -jahre; ihre Entwicklung verläuft verspätet oder unharmonisch. Die Eltern bemerken vielleicht, dass ihr Kind nicht altersgemäss spielt oder spricht oder dass es ein Verhalten zeigt, welches die Umgebung irritiert.

Da sich diese Auffälligkeiten oft nicht mit medizinischer Hilfe beseitigen lassen, benötigen Kind und Familie eine andere Art der Unterstützung. Heilpädagogische Früherziehung kann diese notwendige Unterstützung der kindlichen Entwicklung leisten. Die Fachperson der Heilpädagogischen Früherziehung unterstützt das Kind und seine Familie regelmässig zuhause oder an der Früherziehungsstelle. Ihre Aufgaben sind vielfältig: Wichtig ist die gezielte Förderung der kindlichen Entwicklung, unabhängig von Ursache und Schweregrad der Behinderung oder Auffälligkeit. Durch gezieltes Spiel erwirbt das Kind Fähigkeiten, die es dann mit Hilfe der Erwachsenen in seinen Alltag zu übertragen lernt. Familien mit einem Problemkind sind in einer besonderen Situation. Sie sind häufig verunsichert, was die Erziehung dieses Kindes angeht, sie machen sich Gedanken über die Belastbarkeit der Geschwister oder sie bemerken, dass sich Verwandtschaft und Nachbarschaft von ihnen zurückziehen. Daher spielen die Beratung der Eltern und das gemeinsame Suchen nach Lösungen in der Heilpädagogischen Früherziehung eine grosse Rolle.

Zur kontinuierlichen Begleitung gehört beim älter werdenden Kind auch die Diskussion über Kindergarten- und Schulungsmöglichkeiten.
Die Kinder können von ihren Eltern direkt oder auch von ÄrztInnen und Ärzten sowie je nach Kanton auch von weiteren Fachpersonen angemeldet werden. Wichtige Voraussetzung für Anmeldung und Durchführung der Heilpädagogischen Früherziehung ist die Zustimmung der Eltern. Es handelt sich also um eine Unterstützung, die auf der freiwilligen Teilnahme der Familie beruht."


LG
Renate

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